Dr. Martin Espenhorst (Gehrde / Sofia / Mainz)

Festvortrag 50 Jahre Städtepartnerschaft


Bersenbrück – Greifenhagen

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Gerne habe ich die Einladung angenommen, den Festvortrag „50 Jahre Partnerschaft Bersenbrück – Greifenhagen“ zu übernehmen.

lassen Sie mich den Blick richten über den Zweiten Weltkrieg, ja sogar über den 1. Weltkrieg hinaus in ein Europa der Frühen Neuzeit, der Vormoderne (1500-1800), eine Epoche, die uns immer aktueller zu werden scheint.

Geschichte ist wie eine Folie der Gegenwart: durch sie erkennen wir Veränderungen, Traditionen und Entwicklungen, durch sie wird uns, das, was uns ausmacht als Nation, Gesellschaft, als Ordnung, nicht fremd.

Vermutlich ist die Frühe Neuzeit wieder so interessant, weil damals staatliche und nationale Ordnungen erst im Entstehen begriffen waren und sich erst ausbildeten. Es gab eine Vielzahl von dynastischen, republikanischen und nicht-politischen, wirtschaftlichen und ritterlichen Gemeinwesen und Verbünden: Frankreich, die Eidgenossenschaft, das Hl. Röm. Reich, die Hanse oder der Deutsche Orden.

Nicht von ungefähr beginnt der Kreis Greifenhagener Rundbrief vom Dezember 2012 mit der Schlacht bei Großgörschen 1813, die in Erinnerung an die Schlacht von 1632 auch Schlacht bei Lützen genannt wird, während der der schwedische König Gustaf Adolf getötet wurde.

Doch lassen Sie mich auch den Blick vom Krieg hin zum Frieden wenden. Denn die Patenschaften dienen der Freundschaft und dem Erfahrungsaustausch.

Denn gerade in diesen Jahren 2012 bis 2015 erinnern wir uns an zwei große europäische und wegweisende Friedenskongresse: der eine 1712-1714 fand in Utrecht, Rastatt und Baden statt; der andere in Wien 1815. Der eine – vor genau 300 Jahren – beendete den Spanischen Erbfolgekrieg, der andere – vor nun bald 200 Jahren – die napoleonische Hegemonie über Europa.

Die Urkunden, die hier – aber eben auch in Osnabrück und Münster 1648 – unterzeichnet wurden, sind europäische Erinnerungsorte und somit Bestandteile unserer europäischen Identität und unseres europäischen Wertegeflechts. In diese Reihe europäischer Erinnerungsorte und -zeugnisse reihen sich ebenso ein Flüsse, Gebäude, künstliche oder natürliche Grenzen und Landschaften: der Rhein, die Berliner Mauer oder auch Oder und Neiße. Sie alle sind Dokumente, Kunstwerke oder Naturdenkmäler sind Zeugnisse, die besprochen wurden, umstritten, umkämpft, besungen und übersetzt, aber durchaus auch aus sich heraus sprechen.

Für die Frühe Neuzeit bringen wir vermutlich deshalb so viel Interesse auf, weil damals die Einteilung Europas in klar begrenzte Flächenstaaten und Länder mit nationaler Identität noch nicht erfunden war. Und dennoch gab es die Idee von Europa, es gab Bilder von Europa und Europa-Utopien, Europadiskurse und Konzepte kollektiver Sicherheit in Europa. Das Römische Reich deutscher Nation war ein komplexes, merkwürdiges, friedensstiftendes Gemeinwesen, eine Art Verbund vieler Fürstentümer mit ersten rechtsstaatlichen, überregionalen Ansätzen. Schweden und Frankreich hatten hier im Alten Reich wie natürlich Sitz und Stimme. Auch gab es Doppelfürstentümer und Personalunionen: Polen und Litauen, England und Hannover, Sachsen und Polen, Österreich und Ungarn.

Vor-staatliche Phänomene waren auch die damalige Reichskreise, die bis ins frühe 19. Jahrhundert galten. Osnabrück zB war im Westfälischen Reichskreis wie selbständig verbunden mit Lüttich und Cambrai, Utrecht und Verden, Geldern und Nassau-Dillenburg.

Möglicherweise förderten diese vormodernen Gemeinwesen, Verbände und Ordnungen den binneneuropäischen Austausch. Welchen Beitrag dies auf die Gestaltung Europas und die Völkerverständigung hatte, das können wir nur schwer bemessen. Doch erstmals ist Europa, genauer das Europäische Gleichgewicht, die Balance, als völkerrechtliche Kategorie in einem der Friedensverträge von Utrecht 1712 mit in die Urkunden als Begriff aufgenommen worden.

In der Frühen Neuzeit dachte man durchaus international. Der große französische Minister Mazarin war italienischer Herkunft. In dieser Zeit wurden ständige Botschaften eingerichtet, die Diplomatie professionalisiert, Friedenszeremoniell entwickelt, gemeinsame europäische Standards im Völkerrecht und der Friedensvertragspraxis gesetzt, dem sich nach 1700 auch das Osmanische Reich anzupassen wusste.

Doch gibt es auch eine andere Seite der Medaille: Denn die Frühe Neuzeit war denn doch nur bedingt erfolgreich bei der Wahrung und Stiftung des europäischen Friedens, bedenkt man, dass es im 16.-18. Jahrhundert in fast jedem Jahr irgendwo kriegerische Auseinandersetzungen gab. Wir sprechen daher von einem Zeitalter der Bellizität und der Staatenbildungs- und Konfessionskriege.

Der Kreis Greifenhagen hat seine Spuren in den frühneuzeitlichen Völkerurkunden hinterlassen. Nicht weit von hier, in Osnabrück, verhandelten die Diplomaten 1648 über schwedische Lehen. Im Artikel X, Absatz 2. des Westfälischen Friedens und zwar in der Osnabrücker Ausfertigung, wurden Stettin, Wol[l]in und eben auch Gartz namentlich genannt. Doch nicht nur hier. Gartz finde ich auch im Friedensvertrag von Stockholm (Artikel 19, 21. Januar 1720) und in anderen Staatsschriften.

Insofern war Greifenhagen und seine Umgebung immer eine völkerrechtliche und zwischenstaatliche, eine europäische Angelegenheit.

Christian Kelch ist ein beredtes Beispiel; in Greifenhagen/Pommern 1657 geboren, in Stettin und Berlin zur Schule gegangen, studierte er in Frankfurt/Oder und Rostock, um dann in Livland und Estland zu arbeiten und bald als Pastor tätig zu sein. Schließlich wurde er in Tallinn in Estland Oberpastor.

Für die Wissenschaft bedeutend ist seine „Friedensgeschichte Est-, Liv- und Lettlands“ aus dem Jahr 1695. Wie es der Zufall will habe ich nächste Woche die Gelegenheit, diese wichtige Arbeit mit dem Titel „ Liefländische Historia, oder Kurtze Beschreibung der Denkwürdigsten Kriegs- und Friedens-Geschichte Esth- Lief- und Lettlandes“ in Warschau am Deutschen Historischen Institut im Rahmen einer internationalen Tagung vorzustellen. Die Städtepartnerschaft Greifenhagen und Bersenbrück, eine deutsch-deutsche Freundschaft in europäischem Kontext, steht künftig vor wichtigen Aufgaben, möglicherweise vor ebenso viel Aufgaben wie bisher, denn es geht auch um das europäische Erbe, das nicht in Vergessenheit geraten darf, das uns aber den kommenden Generationen immer entfernter zu werden droht. 

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